Wieder einmal erscheint hier eine Altstadtgeschichte, bei der jemand erzählt und jemand anderes das Erzählte zu Papier bringt. Diesmal lausche ich bei Kaffee und Kuchen den Erzählungen von Ingrid Meise, geb. Klüver, die 1944 geboren wurde und ihre ersten acht Lebensjahre in der Reeperbahn verbrachte. Die Reeperbahn 27 war die Adresse der damaligen Mädchenbürgerschule, die seiner Zeit die Grundschulstufe in der Altstadt abdeckte.


Abb. 1: Mädchenbürgerschule Reeperbahn Abb. 2: Ähnliche Blickrichtung 2025
Ingrid lebte dort mit ihren Großeltern, ihren Eltern und später mit ihrer sieben Jahre jüngeren Schwester Elke. Dabei ist zu erwähnen, dass Ingrids Vater bereits vor ihrer Geburt in den Krieg ziehen musste und im Anschluss in Kriegsgefangenschaft kam. Somit durften er und seine Tochter sich erst vier Jahre danach kennenlernen.
Der Großvater, Carl Wernick, war Lehrer an der Knaben-/Jungenbürgerschule in der Kieler Straße, der Willers-Jessen-Schule. Das war auch der Grund, warum die Familie Klüver in einer der Lehrerwohnungen in der Reeperbahn wohnen durfte. Ingrids Mutter Helga arbeitete in diesen Jahren als Hilfslehrerin ebenfalls an der Willers-Jessen-Schule, somit war es die Oma Alma, die sich tagsüber um Ingrid kümmerte und die Erziehung übernahm.
Wie die meisten Omas konnte sie hervorragend kochen. Es gab einen Kleingarten am Noor, der die Familie Klüver mit dem notwendigen Obst und Gemüse versorgte. Unterschiedliche Kartoffelsorten wurden vor entsprechender Einlagerung zunächst geschmacklich getestet. Dazu ließ Ingrids Oma sich vorab drei oder vier Sorten vom Kartoffelbauern vorbeibringen. Wöchentlich kam eine Fischfrau vorbei und bot den frischen Fang vom morgen an. Und dann war da noch der Milchmann. Bevor man ihn mit Pferd und Wagen sehen konnte, erinnert sich Ingrid an das Läuten einer goldenen Glocke, die schon von weitem zu hören war. Auch Ingrids Oma ging mit Milchkanne an den Wagen, die der Milchmann, peinlich genau abgemessen, entsprechend füllte. Vor dem Pferd hatte Ingrid Angst. Vielleicht lag es daran, dass es einmal samt Wagen ausgerissen ist und alle Leute erschrocken waren. Ob etwas passiert ist, weiß Ingrid heute nicht mehr. Sie erinnert sich jedoch an die große Ledertasche mit dem Wechselgeld, die der Milchmann vor dem Bauch trug. Wie er stets mit seiner großen Hand dort hineingriff und das Hartgeld heraushob, hat sie nachhaltig beeindruckt.
Die Wohnung befand sich im linken Flügel im Obergeschoss der Mädchenbürgerschule und hatte eine stattliche Größe. So gab es neben Küche und Speisekammer ein Esszimmer, ein Herrenzimmer mit zwei Klavieren, ein Schlafzimmer und ein kleines Zimmer. Badezimmer gehörten seinerzeit nicht zur Ausstattung einer Wohnung. Ein Plumpsklo, genauer gesagt sogar zwei, befanden sich in einem Nebengebäude über den Hof. Der Weg dorthin war für Ingrid immer etwas unheimlich. Sie musste die Treppe hinunter und dann über den gepflasterten Hof, aber die Oma blieb stets am Fenster und sagte „Oma passt auf“! Die Toilettenhygiene entsprach damals nicht der, wie wir sie heute kennen. Oma, die Lebensmittel bei „Götze“ in der St.-Nicolai-Straße (heute Höhe Optiker Fielmann) einkaufte, bewahrte stets die Papiertüten vom Einkauf auf. Diese wurden dann an einem Band aufgefädelt und bei Bedarf auf dem Plumpsklo abgerissen. Weich war etwas anderes!
Irgendwann waren die Zinkeimer auf den Plumpsklos, die sog. Goldeimer, voll. Ingrid erinnert sich, dass wöchentlich der Goldeimermann kam. Meist waren es zwei Männer, die mit Pferd und Wagen von Haus zu Haus fuhren. Einer trug zwei leere Eimer ins Haus, der andere trug die vollen und daher schweren, gedeckelten Goldeimer mit Hilfe eines hölzernen Tragjochs zum Fuhrwerk zurück. Wo die vollen Eimer dann entleert wurden, weiß Ingrid nicht. Ich konnte dazu recherchieren und fand im ECKernförde-Lexikon der Heimatgemeinschaft Eckernförde e.V. die folgenden Erläuterungen nach einer mündlichen Überlieferung:
Schokoladenfabrik
Als noch nicht alle Häuser in Eckernförde Spültoiletten hatten, wurden die Goldeimer mit Pferdewagen über das Kopfsteinpflaster des Pferdemarktes und einen unbeschrankten Übergang über die Bahnlinie nach Flensburg zum allgemein nur als „Schokoladenfabrik“ bezeichneten Abfuhrhaus in Höhe der heutigen Gudewerdt-Sporthalle gebracht. Die Eimer wurden in eine gemauerte Wanne entleert und mit Wasserdruck gereinigt. Die Jauche sickerte aus der Wanne über ein Rohr in eine Sammelstelle; hier holten die Bauern sie zum Düngen ihrer Felder ab. Sobald die Fäkalien, schichtweise mit Stroh bedeckt, in der Wanne getrocknet waren, wurde der entstandene Dünger mit Karre und Pferd zu einer auf dem Gelände befindlichen Dunglege gebracht und von dort fuderweise verkauft. Wer einen Kleingarten in der Nähe hatte, kam mit seinem Blockwagen vorbei und bediente sich. In dem Abfuhrgebäude befanden sich zwei Lagerräume für Eimer, eine Werkstatt und ein Pferdestall. Auch viele Schwalben schien der Geruch in der „Schokoladenfabrik“ nicht zu stören.

Abb. 3: Schematische Zeichnung der „Schokoladenfabrik“
Zu den Lehrerwohnungen gehörte auch ein Garten, der sich hinter dem Nebengebäude mit den Plumpsklos auf der einen Seite und einer Waschküche mit großem Kessel auf der anderen Seite bis zur Gartenstraße erstreckte. Hier wurde dann auch stets die Wäsche an der Leine getrocknet. Der Garten war vom eigentlichen Schulhof der Mädchenbürgerschule abgetrennt. Kontakt zu den Schülerinnen gab es aus Ingrids Erinnerungen nicht. Lediglich die große Linde auf dem Schulhof (heute etwa Ecke Gartenstraße/Schulweg) bleibt unvergessen.
Zwei Jahre ging Ingrid dann selbst auf die Mädchenbürgerschule. 1952 zog die gesamte Familie Klüver in die Straße „Am Eichberg“ im Süden Eckernfördes. Die Oma hatte bereits früh Anteile bei dem Genossenschaftlichen Wohnungsunternehmen Eckernförde e.G. (GWU) erworben, wodurch der Umzug möglich wurde. Die Gebäude dort wurden in den 1930er Jahren hauptsächlich zur Unterbringung der Beschäftigten der damaligen Torpedo-Versuchs-Anstalt (TVA), der heutigen Wehrtechnischen Dienststelle (WTD 71), errichtet. In diesem Gebäudekomplex befand sich auch die „Sandkrugschule“, die Ingrid noch zwei Jahre besuchte, bevor sie dann zur weiterführenden Schule wechselte.


Abb. 4: „Sandkrugschule“ Abb. 5: Ähnliche Blickrichtung 2025

Abb. 6: Klassenfoto, Ingrid Klüver, Bildmitte vor Junge mit erhobenem Arm
Dies war die Mittelschule, die sich dann wieder in der Innenstadt Eckernfördes befand. Sie war zunächst im Barackenlager westlich des Steindamms auf dem jetzigen Nooröffnungsgelände untergebracht.


Abb. 7: „Barackenschule„ Abb. 8: Ähnliche Blickrichtung 2025
In den 1960er Jahren wurde dann die Gudewerdtschule im Pferdemarkt als Mittelschule errichtet. Doch zurück zur Barackenschule. Dort begegnete Ingrid und ihren Mitschülerinnen Fräulein Boysen. Sie war eine junge Lehrerin, die u.a. Biologie an der Schule unterrichtete. Die Begegnung mit der rothaarigen Frau bleibt Ingrid bis heute im Gedächtnis. Sie trug einen bunten Rock mit Petticoat und breitem Gürtel und dazu weiße Knopfohrringe. Übrigens aus Fräulein Boysen wurde nach ihrer Hochzeit dann Frau Holm. Diese ist sicherlich einigen Leserinnen und Lesern bekannt. Auch sie ist wie Ingrid schon lange ein Mitglied des Altstadtvereins und vielleicht auch noch einmal bereit, eine Altstadtgeschichte zu erzählen.
Erzählt von Ingrid Meise
Aufgeschrieben von Bärbel Schiewer März 2025
Fotonachweis:
Abbildung 1, 4 und 7 aus „Altes Eckernförde – Das Archiv 1 + 2“
von W. Eulert, Fotograf unbekannt
Abbildung 3 aus ECKernförde – Lexikon
Abbildung 6 aus privater Sammlung Ingrid Meise
Abbildung 2, 5 und 8 von Bärbel Schiewer